Maike Finnern, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), sieht beim Stand der Digitalisierung der Schulen die Chancengleichheit gefährdet. Rund ein Drittel der Schulen seien digitale Nachzügler, denen es an der grundlegenden Ausstattung fehle, sodass deren Schülerinnen und Schüler abgehängt würden, stellte sie in einem Interview auf dem didacta-Stand von AixConcept fest. Im Gespräch mit News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek monierte sie zudem, dass den Schulen Personal fehle – sowohl Lehrkräfte, um pädagogische Konzepte für den sinnvollen Einsatz der Technik zu entwickeln, wie auch IT-Kräfte, um die digitale Infrastruktur aufzubauen und zu pflegen.
Die GEW hat im Mai eine Studie vorgestellt, die zum Schluss kommt, die derzeitige Umsetzungspraxis des Digitalpakts gefährde die Chancengleichheit in den Schulen. Wie kommen Sie zu dem Schluss?
Maike Finnern: „Die Corona-Pandemie hat einen Digitalisierungsschub an den Schulen ausgelöst. Das ist grundsätzlich gut. Aber: Von dieser Entwicklung haben nicht alle Schulen gleichermaßen profitiert. Die Umsetzung des Digitalpakts hat grundsätzlich zu noch größeren Unterschieden in der digitalen Ausstattung der Schulen geführt. Es gibt gut ausgestattete Vorreiterschulen, aber auch rund ein Drittel Nachzüglerschulen. Hier fehlt es oft an der grundlegenden Ausstattung, um guten digitalen Unterricht anbieten zu können. Die Folge: Die Schülerinnen und Schüler an diesen Schulen werden benachteiligt, während der Vorsprung der Kinder und Jugendlichen in den Vorreiterschulen wächst.“
„Die Bildung der Kinder darf weder von der Finanzlage einzelner Kommunen noch von einer zufälligen Digitalisierungsaffinität einzelner Lehrkräfte abhängig sein“, so fordert die GEW. Was muss geschehen, um das dauerhaft zu verhindern?
Maike Finnern: „Der Digitalpakt Schule muss dringend evaluiert und neu justiert werden. Die Mittel des Digitalpakts müssen aufgestockt und verstetigt werden, vor allem müssen die Gelder jedoch anders verteilt werden als bisher. Die Mittel müssen dahin fließen, wo sie am dringendsten benötigt werden: an die Nachzüglerschulen. Zudem müssen die Kommunen als Schulträger IT-Expertinnen und -Experten einstellen, denn das Kerngeschäft der Lehrkräfte ist die Pädagogik, nicht der Aufbau und die Pflege digitaler Strukturen. Letztlich geht es auch darum, Lehr- und Lernmittelfreiheit im digitalen Zeitalter zu garantieren.“
Weiter moniert die GEW im Zusammenhang mit der Studie, „der Fachkräftemangel in den Bereichen Pädagogik, IT und Verwaltung ist das größte Problem des schulischen Digitalisierungsprozesses“. Woran hapert es konkret?
Maike Finnern: „Seit Jahren gibt es in Deutschland, insbesondere an Grundschulen einen dramatischen Lehrkräftemangel, den die Coronakrise noch einmal verschärft hat. Den Schulen fehlen also Lehrerinnen und Lehrer, die gute pädagogische Konzepte für den Einsatz digitaler Lehr- und Lernmittel entwickeln. Denn immer mehr Digitalisierung allein sichert keine Lernzuwächse der Schülerinnen und Schüler. Die Schulen brauchen viel mehr IT-Kräfte und Systemadministratoren als bisher, die die digitale Infrastruktur an den Schulen aufbauen und pflegen sollen. Die Kommunen als Schulträger haben bisher jedoch wegen der unsicheren Finanzierung kaum Stellen für diese Kräfte geschaffen, deshalb gibt es hier viele Defizite. Zudem sind viele Verwaltungen personell nicht so ausgestattet, um beispielsweise Anträge, Geldflüsse und Abstimmungsprozesse effektiv zu steuern, den Einkauf digitaler Systeme zu organisieren oder die Schulen wie notwendig zu unterstützen.“
Wird aus Ihrer Sicht genug getan, um die Lehrkräfte für einen digital gestützten Unterricht fortzubilden? Woran fehlt es womöglich?
Maike Finnern: „Der Bedarf, den Lehrkräfte an Fort- und Weiterbildung in Sachen Digitalisierung anmahnen, wird von den aktuellen Angeboten bei weitem nicht abgedeckt. Vor allem mangelt es an passgenauen Fort- und Weiterbildungen, die Antworten auf die Anforderungen bei der Umsetzung guter pädagogischer Digitalstrategien an den Schulen vor Ort geben.“
Mit Blick auf eine besonders förderbedürftige Schülerklientel: Welche Chancen und Potenziale der Digitalisierung sehen Sie?
Maike Finnern: „Die Medienkompetenz der Schülerinnen und Schüler muss gestärkt werden. Die Lehrkräfte brauchen mehr Zeit, um diese Kinder und Jugendlichen individuell zu fördern. Auf dieser Grundlage kann – eingebunden in ein gutes pädagogisches Konzept, das die Möglichkeiten der Digitalisierung ausschöpft – ein Beitrag zu mehr Chancengleichheit geleistet werden.“
Wie, meinen Sie, sieht der Unterricht der Zukunft aus?
Maike Finnern: „Ein digital durchgestylter Unterricht soll und kann nicht das Ziel von Schulentwicklung sein. Auch künftig gilt: Bildung an sich ist immer analog. Nur auf der Grundlage des sicheren Beherrschens der kulturellen Schlüsselkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen können digitale Unterrichtsmittel erfolgreich eingesetzt werden. Dafür brauchen die Schulen mehr zeitliche, finanzielle und fachliche Ressourcen. Die optimale Nutzung digitaler Mittel bedeutet, dass Unterricht analog und digital in bestem Sinne kombiniert.“