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„PÄDAGOGIK 3.0“ und DIGITALISIERUNG: Was die Schule der Zukunft mit Maria Montessori zu tun hat

BERLIN. Die Digitalisierung der Schulen schreitet rasant voran. Die Frage ist allerdings: Wohin? Der Computereinsatz kann den Unterricht in den nächsten Jahren gravierend verändern – zum Positiven, wie der renommierte Bildungsforscher Olaf-Axel Burow meint. Er postuliert bereits eine „Pädagogik 3.0“. Das auf den ersten Blick so revolutionär anmutende Konzept baut tatsächlich auf über 100 Jahre alte Prinzipien: die von Maria Montessori. Deren Ansatz („Hilf mir, es selbst zu tun“) prägt den neuen Geist.


Dieser Artikel erschien im Dezember 2021 auf News4teachers und wird hier mit freundlicher Genehmigung veröffentlicht.


Worin bestehen die Chancen eines digital gestützten Unterrichts? „Ich sehe hier vor allem zwei zentrale Aspekte“, erklärt der Bildungsforscher Prof. em. Olaf-Axel Burow, der in diesem Jahr auf zwei pädagogischen Leitveranstaltungen – dem Deutschen Schulleiterkongress (DSLK) sowie dem Seminartag des Lehrerausbilder-Verbands bak Lehrerbildung – als Hauptreferent auftrat: Erstens, „digitale Medien, kompetent eingesetzt, eröffnen völlig neue Möglichkeiten passgenauen, binnendifferenzierenden Lehrens und Lernens“ und, zweitens, „sie können Lehrer/innen von der Vermittlung von Basiswissen entlasten und geben ihnen die Möglichkeit zu Lernumgebungsdesignern zu werden, die die gewonnene Zeit für die zielgenaue Lernberatung von Schüler/innen nutzen können“.

Insbesondere der „Flipped Classroom“, der „umgedrehte Unterricht“, und Gamification, also „Spielifizierung“, böten Chancen für passgenaues, individualisiertes, aber auch kollaboratives Lernen und die Entlastung von LehrerInnen – jedenfalls, wenn sie qualifiziert entwickelt werden, meint Burow. Hintergrund: Flipped Classroom bedeutet, dass Schüler/innen sich zunächst selbstständig mit Hilfe von interaktiven Lernmedien wie Lernvideos und Lernplattformen Lernstoff aneignen, üben und mit ihren Peers austauschen, bevor der im Unterricht mit der Lehrkraft thematisiert wird.

Maria Montessori, hier ein nachträglich koloriertes Foto von 1913, hat pädagogische Prinzipien formuliert, die noch heute gelten – gerade in Zeiten der Digitalisierung. Foto: Wikimedia Commons / Public Domain CC BY-SA 4.0

Burow: „Schüler/innen können so passgenauer an ihren individuellen Lernständen lernen und Lehrer werden von der traditionellen Unterrichtstätigkeit entlastet. Sie wandeln sich schrittweise zu Lernumgebungsdesignern, die die geeigneten Lernmedien passgenau für den einzelnen Schüler oder die Projektgruppe zuschneiden und als Lernberater ihre Lerntätigkeit begleiten.“ In Zukunft würden sie dabei durch „Data Mining“ unterstützt, das heißt die Lernsoftware analysiert die Lerntätigkeit und liefert dem Lehrer differenzierte Lernprofile mit deren Hilfe sie die Fortschritte und Defizite der Schüler erkennen und Fördermaßnahmen einleiten können.

Eine weitere vielversprechende Perspektive für die Schule der Zukunft und eine veränderte Lehrerrolle böte die Gamifizierung des Lernstoffes, erklärt Burow – und beruft sich dabei ausdrücklich auch auf Maria Montessori. „Von Friedrich Schiller und Maria Montessori über Celestin Freinet bis hin zur modernen Hirnforschung zieht sich eine beeindruckende Kette von Argumentationen, die die Bedeutung des Spiels für die menschliche Entwicklung hervorheben“, erklärt der Bildungsforscher.

Er fragt: „Warum verdammen so viele Eltern und Pädagogen dann Computerspiele und was ist für Schüler/innen an ihnen so interessant? Computerspiele sind verstehbar, bedeutsam und handhabbar und erzeugen beim Spieler ein Kohärenzgefühl. Sie bilden damit eine ideale, eine salutogene Lernsituation ab. Computerspieler erfahren ‚flow‘, weil sie so aufgebaut sind, dass sie die Spieler herausfordern, aber nicht überfordern. Die Spieler haben permanent Erfolgserlebnisse, weil sie ein sofortiges, zielgenaues Feedback über ihre Leistungen erhalten. (…) „Die Spieler handeln selbstbestimmt, erfahren Kompetenzzuwachs sowie Sinn- und Zugehörigkeitsgefühl. All dies erreicht der traditionelle Unterricht im Klassenverband, der noch all zu oft darauf abzielt, für alle zur gleichen Zeit das Gleiche zu vermitteln, nur unzureichend.“

“Digitale Medien eröffnen die Möglichkeit, das Lernen individueller, interaktiver, internationaler und kreativer zu gestalten”

Burow postuliert eine Pädagogik 3.0. „Während Pädagogik 1.0, das freie, unverschulte, informelle Lernen meint, das wir alle mindestens bis zum Eintritt in die Schule erfahren haben und das auch im Erwachsenenleben einen großen Teil unseres Lernens einnimmt, bezeichnet ‚Pädagogik 2.0‘ das industrialisierte, nach Fächern sortierte systematische und standardisierte Unterrichten des Zeitalters der Massenproduktion. Kennzeichen dieser Art des Unterrichts ist die Idee, dass alle zur gleichen Zeit das Gleiche lernen sollen, was sich auch in standardisierten Abschlussprüfungen zeigt. Diese Form des unpersönlichen Lehrens und Lernens führt sowohl bei Schülern und Studierenden immer häufiger zu einer inhaltsgleichgültigen Jagd nach Noten und credit points. Viele verfehlen so ihre innere Berufung, sind am Ende ihrer Ausbildungskarriere oberflächlich an die Vorgaben angepasst, letztlich aber orientierungslos und wissen zu wenig über ihr individuelles Potenzial.“

Und weiter: „Mit dem Anbrechen des digitalen Zeitalters, so meine These, entstehen neue Formen des Lehrens und Lernens, die ich als Pädagogik 3.0 bezeichne, in denen die Erfolgsprinzipien von Pädagogik 1.0 und Pädagogik 2.0 erweitert durch digitale Medien eine neue Verbindung eingehen und die Möglichkeit eröffnen, das Lernen individueller, interaktiver, internationaler und kreativer zu gestalten. Dabei geht es – auch im Sinne der Vorstellungen des Hirnforschers Gerald Hüther und der Initiative ‚Schule im Aufbruch‘ Margret Rasfelds, um eine Orientierung am Ziel umfassender Potenzialentfaltung. (…) Diese Entwicklungen haben auch massive Konsequenzen für eine veränderte Lehrerrolle, weil sie geeignet sind, die Lehrer/innen von Routinetätigkeiten zu entlasten und es ihnen ermöglichen, sich auf die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Schüler/innen zu konzentrieren. Dabei gilt, dass der digitalisierte Anteil des Lehrens und Lernens maximal 20 bis 30 Prozent des Unterrichts ausmachen wird. Insofern ist die Schule der Zukunft nur begrenzt digital.“ Je stärker die Digitalisierung um sich greife, desto wichtiger werde das Analoge: Tanz, Theater, Kunst…

Wie viel Burows Vision mit der Montessori-Pädagogik zu tun hat, zeigt sich am praktischen Beispiel der Berliner Deutsch Skandinavischen Gemeinschaftsschule, eine freie Schule unter Trägerschaft der Montessori Stiftung Berlin. Der zugrunde liegende Ansatz wird in einem von dem Bildungsforscher herausgegebenen Sammelband („Schule digital – wie geht das? Wie die digitale Revolution uns und die Schule verändert“) ausführlich beschrieben. „Die pädagogische Leitidee ist eine skandinavische Pädagogik, bei der das Kind im Mittelpunkt seiner Lernentwicklung steht“, erklärt der ehemalige Schulleiter Jacob Chammon, heute geschäftsführender Vorstand des Forum Bildung Digitalisierung .

Heißt: „Nicht alle Schüler lernen im gleichen Tempo. Deswegen lernen die Schüler an der DSG von der 1. bis zur 9. Klasse in heterogenen Lerngruppen. Die Erst-, Zweit- und Drittklässler lernen zusammen, die Viert-, Fünft- und Sechstklässler lernen zusammen und so auch die Siebt-, Acht- und Neuntklässler. Nur die Zehntklässler lernen in einer altershomogenen Gruppe.“

“Es ist wichtig, dass der Schüler individuell gefördert und da abgeholt wird, wo er steht”

Im Alltag bedeute das, dass Frontalunterricht sehr begrenzt angewandt werde. „Die unterschiedlichen Altersstufen und Niveaustufen haben zur Folge, dass man didaktisch anders vorgehen muss. Es ist wichtig, dass der Schüler individuell gefördert und da abgeholt wird, wo er steht. Einige Schüler – z. B. diejenigen, die direkt aus Skandinavien nach Berlin kommen, oder unsere afghanischen Schüler – brauchen mehr Deutschunterricht als deutsche Muttersprachler. Andere Schüler haben großes Interesse an Mathematik und Naturwissenschaften und möchten da einen Schwerpunkt setzen. Wieder andere sind sehr oft in Englisch, belegen deshalb weniger Englisch-Kurse und fokussieren sich stattdessen auf Gesellschaftswissenschaften.“

Weiter berichtet Chammon: „Wenn man als Schule so arbeiten möchte, ist Individualisierung das A und O. An der DSG arbeiten wir deswegen mit den folgenden drei durchgehenden Lernformaten:

  • Freiarbeit/Studienzeit (die Begrifflichkeit ändert sich mit dem Alter der Schüler)
  • Impulse, Kurse, »normaler« Fachunterricht
  • Werkstätten/Projekte

In der Freiarbeit oder Studienzeit arbeiten die Schüler individuell oder in Gruppen mit Arbeitsaufträgen oder Projekten aus Kursen oder dem Fachunterricht. Hier werden Inhalte geübt bzw. vor- oder nachbereitet. Klassen- und Fachlehrer betreuen die Studienzeit, in der Grundschule mithilfe der als Erzieher ausgebildeten Lernbegleiter. In den Kursen werden Inhalte aus dem Rahmenlehrplan den Schülern – wenn möglich in fächerübergreifenden Projekten – vermittelt. Wir wissen, dass die Welt nicht aus Fächern besteht. Aber wir brauchen die Kompetenzen aus den Fächern, um die Welt und deren Phänomene zu verstehen. In den Werkstätten arbeiten die Schüler noch realitätsbezogener mit dem Stoff. »Non scholae sed vitae discimus!« Sie können zwischen fachlichen, sportlichen und kreativen Werkstätten wählen.“

Und welche Rolle spielt die Digitalisierung dabei? „Die Lehrer müssen bei der Arbeit mit neuen Medien im Unterricht noch bessere Didaktiker sein. Sie müssen die fachlichen, medialen und sozialen Ziele vor Augen haben und dazu offene Aufgabenstellungen formulieren, die die Schüler mit Medien lösen können.“

Konkret bedeutet das: „In der Freiarbeit werden Laptops und Tablets mit adaptiven Lernmitteln zum Training eingesetzt (u. a. CampMat und CampEnglish). Alle Schüler und Mitarbeiter haben Zugang zu Office 365, wo Materialien geteilt werden und Schüler kollaborativ arbeiten können. Digitale Wörterbücher werden in allen Sprachen eingesetzt. In Projekten machen die Schüler die Dokumentation. Sie drehen Filme, erstellen digitale Zeitungen und führen z. B. einen Hort-Blog im Intranet. Im Sprachunterricht führen die Schüler oder die Lehrer ein digitales Portfolio. Das ermöglicht die Evaluation von mündlichen Fähigkeiten. Das Thema »Coding« wird im Rahmen der Werkstatttage schon in der Grundschule angeboten. Hier bauen die Schüler Roboter und arbeiten mit Caliope Minirechnern und LEGO-WeDo. In der Sekundarstufe gibt es das Fach »Produktgestaltung«. Hier lernen die Schüler u. a., wie man digitale Produkte anhand einer »digitalen Federmappe« erstellt. Echte Apps werden mit Unterrichtsinhalten verknüpft und die Schüler lernen z. B., digitale Poster oder Comics mit Lerninhalten zu erstellen. Sie drehen Erklär-Videos vor einem »Green Screen« und können z. B. im Mittelalter einen Rundgang machen.“

Chammon: „Unsere größte und wichtigste Aufgabe als Lehrer ist es, die Schüler auf die Welt da draußen vorzubereiten. Und die Welt ist digitalisiert! Lasst uns gemeinsam die zwei Welten vereinen, damit wir keine Parallelgesellschaften aufbauen.“ Maria Montessori hätte ihre helle Freude daran. News4teachers


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Herzliche Grüße aus Stolberg
Thomas Kadenbach,
Schulungsleiter AixConcept GmbH

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