Foto: Sascha Kreklau / Didacta Verband

Prof. Fthenakis: „Kreativität muss einen zentralen Stellenwert im Bildungssystem einnehmen“ – Digitalisierung hilft dabei

Auf der bevorstehenden Bildungsmesse didacta in Stuttgart rückt einmal mehr die Digitalisierung der Bildungseinrichtungen in den Fokus. Welche Chancen verbinden sich mit dem Einsatz von IT in der Schule und auch schon in der Kita? Wir sprachen darüber mit dem Grandseigneur der Frühpädagogik in Deutschland und Ehrenpräsident des Didacta Verbands der Bildungswirtschaft, Prof. Dr. mult. Wassilios E. Fthenakis. Er wird auf der didacta am Stand von AixConcept ein Interview geben (am 7. März um 14.15 Uhr). Wir sprachen mit ihm vorab.

Welche Chancen birgt die Digitalisierung Ihrer Ansicht nach für die frühkindliche Bildung und den Schulunterricht?

Fthenakis: Die Digitalisierung über alle Stufen des Bildungsverlaufs kann helfen, den Bildungsprozess zu erweitern und zu vertiefen. Die bisherige Auffassung, dass Kinder mit all ihren Sinnen lernen, die Welt zu begreifen, kann so nicht länger aufrechterhalten werden: Mit Hilfe von neuen Technologien können Kinder den Zugang zu Informationen, zu Phänomenen und zu Lernangeboten erhalten, die über die Sinnesorgane sonst nicht zugänglich gewesen wären. Wie das Herz das Blut pumpt, wie ein Vulkan ausbricht, was sich alles unter der Oberfläche eines Sees ereignet, wie sich weit entfernte Kulturen entwickelt haben, all das und viel mehr kann derzeit in den Bildungsprozess direkt einbezogen werden. Ich habe deshalb empfohlen, in jedem Gruppenraum das „Fenster zur Welt“ anzubringen. Sozusagen ein Screen, mit dessen Hilfe der Kontakt zu all den Lerninhalten und -orten ermöglicht wird, die eine moderne Bildung benötigt.

Wie ist der aktuelle Stand in puncto Digitalisierung? Sind Sie zufrieden oder wo gibt es Ihrer Meinung nach noch Nachholbedarf?

Fthenakis: Verglichen zu der Zeit vor zehn Jahren besser, verglichen zu anderen Ländern haben wir starken Nachholbedarf. Bisherige Bemühungen konzentrieren sich auf die Bereitstellung einer Infrastruktur. Dies ist notwendig, aber bei weitem nicht ausreichend. Es geht auch nicht lediglich darum, Technologien in das bestehende Bildungssystem zu integrieren. Neue Technologien beeinflussen die Art und Weise, wie wir lernen und fordern das Bildungssystem, wie nie zuvor, heraus. Die Chance besteht darin, die technologischen Herausforderungen zum Anlass zu nehmen, um das bestehende Bildungssystem zu verändern. Und diese Veränderung, ich spreche von Transformation ins digitale Zeitalter, umfasst alles: Die theoretische Grundlage auf der das Bildungssystem aufbaut, das Verständnis von Lernen und Lernorganisation, den methodisch-didaktischen Ansatz, die Etablierung einer dialogischen Bildung, das heißt die Transformation vom primär individuellen zum kooperativen Lernen und vieles mehr. Hinzu kommt die Notwendigkeit, neue Lernräume, auch virtuelle Studios, zu entwerfen, die Einrichtung selbst zu digitalisieren und digitale Lernangebote in den Bildungsplan zu integrieren.

Woher rührt Ihrer Ansicht nach die Skepsis gegenüber digital gestützter Bildung bei Eltern und dem Fachpersonal in Kitas und Schulen?

Fthenakis: Es scheint eine genuine und historisch tradierte, weit verbreitete Angst vor dem Neuen die Menschen zu begleiten: Im 18. Jahrhundert hat man sich gegen das Bücherlesen gewandt, als das Fernsehen kam, fokussierte sich die Kritik auf dieses Medium. Kurioserweise wurde den Menschen empfohlen, statt fernzusehen, Bücher zu lesen. Und jetzt wiederholt sich diese Urangst verstärkt, weil man das Ausmaß des Einflusses und der Wirkung der neuen Technologien nicht richtig einschätzt. Manche Bedenken sind zum Teil berechtigt, was den Schutz der Persönlichkeitsrechte oder den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor inhärenten Risiken des Internets betrifft. Dennoch: Es liegt eine hinreichende Forschungsevidenz vor, wonach die Nutzung neuer Technologien mit Gewinn für die Kinder einhergehen kann. Vor allem dann, wenn bestimmte Voraussetzungen im Bildungssystem gegeben sind: Eine funktionierende und gut gewartete Infrastruktur, eine forschungsgestützte Einbettung der Technologien in den Bildungsplan, gut professionalisierte Fachkräfte und informierte und engagierte Eltern.

Kinder, die heute im Kindergarten sind, werden ihre Ausbildung etwa nach 2040 beenden und in eine völlig veränderte Welt eintreten, die von Technologien durchdrungen und von hoher Diskontinuität geprägt sein wird.

In welchen Bereichen kann die Digitalisierung in der Bildungslandschaft ansetzen und wo kann sie die Fachkräfte in Kitas und Schulen entlasten?

Fthenakis: Ich habe empfohlen, zunächst die Einrichtung zu digitalisieren und Kinder, Fachkräfte und Eltern einzuladen, aktiv daran mitzuwirken. Eine solche Vorgehensweise vermeidet, die Fachkräfte primär zum Objekt der digitalen Transformation der Einrichtung zu machen, was bekanntlich Widerstände hervorruft. Insbesondere sollten sie durch aktive Mitwirkung die Vorteile erkennen, die die Transformation in das digitale Zeitalter mit sich bringt: Etwa Gewinnung an Zeit, die für direkte Interaktion mit den Kindern genutzt werden kann. Die Fachkräfte werden von müßigen Aufgaben befreit, wie etwa die Anfertigung von Listen über An- und Abwesenheit von Kindern oder deren Verweildauer in der Einrichtung. All das und vieles mehr können neue Technologien sogar besser bewältigen. Die Kommunikation mit den Eltern bekommt eine neue Qualität, Professionalisierungsangebote für Fachkräfte können kontinuierlich vermittelt werden. Auch die Dokumentation von kindlichen Lernprozessen, die Erstellung individueller Lernprofile, all das kann heute viel zuverlässiger mit Hilfe von Technologien erfolgen.

Wenn Technologien angemessen und verantwortungsvoll eingesetzt werden, können sie zur Bereicherung des Bildungsprozesses führen. Die Evaluation dessen, was in der Gruppe an (auch individuellen) Lernprozessen und -fortschritten erfolgt, kann viel besser mittels neuer Technologien gesichert werden als durch Fachkräfte selbst. Und wir haben die Möglichkeit, Kinder aktiv daran zu beteiligen. Bereits im dritten Lebensjahr können die Kinder beim Verlassen der Einrichtung mit Hilfe von Piktogrammen ihren Tag evaluieren. Die Kommunikation unter den Fachkräften, mit den Eltern und nicht zuletzt mit anderen Einrichtungen kann erleichtert werden.

Welche Kompetenzen für die Zukunft können die Kinder durch digitale Medien erlernen?

Fthenakis: Kinder, die heute im Kindergarten sind, werden ihre Ausbildung etwa nach 2040 beenden und in eine völlig veränderte Welt eintreten, die von Technologien durchdrungen und von hoher Diskontinuität geprägt sein wird. Sie werden Technologien anwenden, die erst entwickelt werden müssen und Berufe ausüben, die man heute nicht kennt. Auf diese Welt hin müssen wir heute Kinder angemessen vorbereiten. Dafür reichen die Konzepte, die wir bislang angewandt haben, bei weitem nicht aus. Die in den Bildungsplänen kodifizierten Kompetenzen müssen betreffend ihrer Zukunftsrelevanz hinterfragt werden. Und dies sollte auf der Grundlage weltweit stattfindender Debatten über Zukunftskompetenzen erfolgen. Neue Technologien helfen, digitale Kompetenz als eine wichtige transversale Kompetenz umzusetzen. Kreativität muss einen zentralen Stellenwert im Bildungssystem einnehmen. Studien zeigen, dass dies mit Hilfe von neuen Technologien, bereits im vorschulischen Alter, mit Gewinn erfolgen kann. Kommunikationskompetenz, kritisches Denken oder kooperatives Lernen können mit neuen Technologien unterstützt werden. Der bereits in anderen Bildungssystemen erfolgte Einsatz von Drohnen, wird genutzt, um technische Kompetenz, Planungskompetenz und kooperatives Lernen zu stärken, wie auch die Umgebung von anderen, sonst dem Lernenden nicht zugänglichen, Perspektiven zu betrachten.

News4teachers: Sie sagen, dass das deutsche Bildungssystem die Kinder systematisch unterfordert hat, da ihnen zu wenige Anregungen gegeben wurden. Was muss sich ändern, damit die Kinder in unserem Land eine adäquate Bildung erhalten, die sie auf die Zukunft vorbereitet?

Fthenakis: Ich habe in der Vergangenheit behauptet, dass wir den kindlichen Lernprozess auf der Grundlage konstruktivistischer Konzepte organisiert haben, die zu einem Verständnis von Bildung führten, wonach etwa die kognitive Entwicklung als Voraussetzung für das Lernen betrachtet wurde. Gegenwärtig wird, umgekehrt, das Lernen als Motor für die kindliche Entwicklung allgemein und für die kognitive Entwicklung insbesondere betrachtet. Und die Auffassung der Konstruktivisten, wonach das Kind über die Exploration der Umwelt seine Entwicklung selbst vorantreibt, wird so nicht mehr aufrechterhalten. Der Selbstbildungsansatz war die große Verirrung des 20. Jahrhunderts. Wir haben also gelernt, dass Kinder viel früher und viel kompetenter den Lernprozess mitgestalten können, in Kooperation mit den Eltern, den Fachkräften und anderen Kindern. Und dies sollte, im Interesse des Kindes, auch in der Bildungspraxis erkannt und umgesetzt werden.

Hat die Digitalisierung durch die Corona-Pandemie einen Schub in die richtige Richtung bekommen?

Fthenakis: Die Pandemie hat zweifelsfrei einen Schub in Richtung der Digitalisierung der Bildung mit sich gebracht. Ob er in die richtige Richtung weist, muss noch erwiesen werden. Persönlich habe ich berechtigte Zweifel. Denn betrachtet man diese nunmehr digital organisierten Bildungsangebote, so wird man leicht feststellen, dass sie lediglich eine Weitergabe analoger Angebote, nun mittels neuer Technologien, darstellen. Sonst hat sich kaum etwas verändert. Das kann keine Perspektive für die Zukunft bieten. Es muss um Transformationen von beiden Seiten gehen und sie wird tiefgreifender Natur sein müssen.

Wir müssen zunehmend auf die Stärkung kindlicher Entwicklung und kindlicher Kompetenzen setzen und dies von Anfang an.

Die IQB-Studie, die im vergangenen Herbst veröffentlicht wurde, kreidet an, dass Deutschlands Kinder und Jugendliche große Lernrückstände und Leistungsdefizite haben. Welche Herausforderungen für das Bildungssystem ergeben sich daraus?

Fthenakis: Der IQB-Bildungstrend hat bestätigt, was man bereits erwartet hatte. Solange das Bildungssystem sich einer tiefgreifenden Reform entzieht, solang man mit Schablonen aus dem zwanzigsten Jahrhundert Unterricht organisiert und solange die Wissensvermittlung die dominante Rolle spielt, kann man auch keine anderen Ergebnisse haben. Die Bundesrepublik hat betreffend der Bildungssysteme der Länder auf mehreren Ebenen Herausforderungen zu bewältigen. Etwa mit Blick auf die (erneut) attestierte Bildungsungerechtigkeit: diese kann nicht überwunden werden, solang die Schüler in Deutschland mit unterschiedlichen Bildungsplänen, unterschiedlichen Rahmenbedingungen und mit nicht angemessen regulierten Bildungssystemen zu tun haben. Um am Beispiel des letzteren das Problem zu konkretisieren: Bildungssysteme können eine hohe Qualität am ehesten sichern, wenn sie gut reguliert sind. Dazu gehört eine zentrale Steuerung die Ausbildung der Fachkräfte betreffend, einen von allen Ländern akzeptierten Bildungsplan, die Finanzierung des Bildungssystems und dessen Evaluation. Alles andere kann, bei Beachtung gewisser Grundsätze, dereguliert werden. Das Bildungssystem ist weit davon entfernt.

Wodurch werden die Leistungsdefizite der Schüler*innen verursacht und wie sind sie Ihrer Meinung nach aufzuholen?

Fthenakis: Wir müssen zunehmend auf die Stärkung kindlicher Entwicklung und kindlicher Kompetenzen setzen und dies von Anfang an. Erfolgreiche Bildungsbiographien werden am ehesten über eine qualitativ hochwertige vorschulische und Grundschulbildung gewährleistet. Aber gerade diese Bildungsbereiche bleiben chronisch unterfinanziert und die Reform lässt auf sich warten. Wir müssen endlich die Reform der Professionalisierung der Fachkräfte in Angriff nehmen und didaktisch-pädagogische Ansätze müssen modernisiert werden. Die Bildungsorganisation ist am ehesten mit Hilfe der Methode der Ko-Konstruktion zu gestalten und Lernorte außerhalb sind stärker in den Lernprozess einzubeziehen. Nicht zuletzt bleibt nach wie vor die Familie als der wichtigste Bildungsort bestehen, den es zu stärken gilt. Die neuen Technologien de-institutionalisieren und kommerzialisieren die Bildung. Und die virtuelle muss mit der analogen Welt konstruktiv-kreativ verbunden werden. Das sind nur einige Aspekte eines komplexen Transformationsprozesses, dem sich Bildungssysteme gegenwärtig stellen müssen. Den Luxus der Langsamkeit kann man sich nicht länger erlauben.

Gibt es etwas, dass sich schon in der Ausbildung der Lehrkräfte ändern muss, um eine zukunftsfähige Bildung für die Kinder und Jugendlichen zu erreichen?

Fthenakis: Reformierte Bildungssysteme fokussieren nicht mehr primär auf die Bildungsinstitution, z. B. den Kindergarten, die Grundschule etc., sondern auf die individuelle kindliche Bildungsbiographie. Wenn es so ist, dann benötigen wir Fachkräfte mit einem veränderten Ausbildungsprofil. Um ein Beispiel zu nennen: In Schottland ist die Ausbildung der Erzieherin auf Hochschulniveau organisiert, mit einem Masterabschluss. Nach Abschluss der Ausbildung kann diese Absolventin noch nicht in der Praxis tätig werden. Es bedarf einer Prüfung bei einer Nationalagentur, in der sie ihre pädagogisch-didaktischen Kompetenzen beweisen soll. Erst dann erhält sie eine befristete Lizenz und sie wird gleichzeitig in ein begleitendes Professionalisierungs- und Evaluationsprogramm eingebettet. Die Lizenz wird verlängert, wenn sie erfolgreich diese Maßnahmen absolviert. In Italien hatte ich die Anregung gegeben, Fachkräfte dafür auszubilden, dass sie befähigt werden, Bildungsprozesse mit den Kindern von Geburt an und bis zum 11. Lebensjahr, dem Ende der italienischen Grundschule, zu gestalten, was bereits umgesetzt wurde. Es gibt zahlreiche Modelle, die herangezogen werden können, um die Ausbildung der Fachkräfte neu zu gestalten.

Wie sieht Ihrer Meinung nach die Bildung in zehn Jahren in Kitas und Schulen aus?

Fthenakis: Die Beantwortung dieser Frage hängt eng mit unserer Bereitschaft, das Bildungssystem zu reformieren, zusammen. Das kann noch schlechter aussehen als heute, wenn wir die Dinge ihrem Schicksal überlassen. In diesem Fall läuft das Bildungssystem akut Gefahr, zum Looser der Digitalisierung zu werden. Was ich mir wünschen würde: Es ist hoch an der Zeit und noch nicht zu spät, endlich eine Bildungsreform einzuleiten, die ihren Namen verdient und von den Ländern lernt, die sie bereits teilweise seit langem und mit Erfolg umgesetzt haben. Dann kann es so weit kommen, dass Studien wie IQB für das Land ein anderes Bild präsentieren.

Das Interview erschien zunächst auf News4teachers.de. Wir veröffentlichen es hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.


AixConcept auf der didacta

Live-Gespräche mit Praktikerinnen und Praktikern aus Schule und Verwaltung, Produkt-Präsentationen und ein innovatives Unterrichtsformat – AixConcept bietet auf der didacta 2023 in Stuttgart ein pralles Info-Programm rund um die Digitalisierung der Schulen. Prominente Gäste haben sich angesagt: neben Prof. Dr. mult. Wassilios E. Fthenakis die Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbands Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, der Bundesvorsitzende des Deutschen Realschullehrerverbands VDR Jürgen Böhm sowie Cornelia Schneider-Pungs, Teamleiterin für den Schulbereich von Microsoft Deutschland.

Hier geht es zum vollständigen Standprogramm von AixConcept: https://aixconcept.de/didacta-2023/

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